Die fliegenden Weihnachtskinder
Unter einer geschlossenen Schneedecke lag die Siedlung bedeckt in der Morgensonne. Ein so richtig schönes Bild, wie man es sich in der Weihnachtszeit wünschte. Wann war das einmal in den letzten Jahren? Aus jedem der Schornsteine stieg Rauch auf. Beladen und bepackt mit Paketen, huschten die Menschen über die Straßen. Manche trugen einen Weihnachtsbaum unter dem Arm. Vor einigen Häusern wurde Schnee weggeschaufelt. Hier und da bauten Kinder in den Vorgärten einen Schneemann. Die alten Kastanienbäume streckten ihre kahlen, Schnee bedeckten Äste, dem Himmel entgegen. Nachbarn plauderten ein paar freundliche Worte miteinander und wünschten sich gegenseitig „Frohe Weihnachten“.
Hier kannte jeder jeden. Ein lustiges, rechtschaffendes Völkchen, das sich gegenseitig half.
Ruhig und friedlich verlief das Leben im Grübentälchen. So langsam wurde der Himmel immer grauer. Heute wird es noch viel Schnee geben, dachten die Leute, wenn sie aus dem Fenster schauten.
Im Haus von Oma Inge und Opa Klaus in der Friedenstraße herrschte ein reges Treiben. Am vergangenen Abend waren die beiden Söhne mit ihren Familien, die an der Ostsee wohnten, angekommen. Sie alle wollten die Feiertage zusammen verbringen. Da war Enkel Daniel, der schon die Schule besuchte. Die beiden Brüder Marcel und Yannick, die noch Kindergarten Kinder waren. Drei Lause Jungs, die nur Unsinn im Kopf hatten. Und das jüngste Enkelkind war auch bei den Großeltern, die kleine Amelie. Sie wohnte in der Stadt. Ihre Mama studierte noch an der Uni. Deshalb holte Opa Klaus jeden Morgen die kleine zu den Großeltern in die Friedenstraße. Abends wurde die kleine wieder von ihrer Mama nach Hause gebracht.
Die drei Jungs saßen mit Opa Klaus an einem riesigen Küchentisch, und spielten Mensch ärgere dich nicht. Daniel maulte, weil er zweimal hintereinander verlor. Amelie saß vor der Heizung und spielte mit Lego. Bis Oma Inge sagte: „ihr räumt jetzt zusammen, wir wollen Mittag essen. Heute Nachmittag kommt Nina, die geht mit euch rodeln, gibt euch Abendbrot und bringt euch ins Bett. Ich möchte keine Klagen hören“. Nina wohnt im Übernächsten Haus. Ihre Mama war die älteste Tochter der Großeltern. Heute Nachmittag hatte Nina frei und wollte die Kinder versorgen, denn die Großeltern wollten am Nachmittag mit den Eltern der Kinder in der Stadt noch einige Weihnachtseinkäufe tätigen, über den Weihnachtsmarkt spazieren und am Abend in der Altstadt Pizza essen gehen. Gegen 21 Uhr wollte man wieder zurück sein.
Um 16 Uhr kamen die Kinder durchnässt und durchgefroren vom rodeln zurück. Amelie bekam eine trockene Windel und die anderen zogen sich trockene Sachen an. Nun saßen sie alle auf Omas großer Couch. Vor den Kindern auf dem Couchtisch stand dampfender Kakao und Butterbrötchen, die sie verspeisten. Im Kamin knisterte das Feuer. Es war mollig und warm. Langsam wurde es dunkel. Feuermännchen sah man an den Wänden hochsteigen. Die Kinder kamen alle gerne zu den Großeltern. Sie liebten diese grauen Stunden und fühlten sich geborgen bei Oma und Opa. In der Ecke stand ein riesig großer geschmückter Tannenbaum. Darunter lagen Weihnachtsgeschenke verschnürt und die Kinder schlichen drum herum, neugierig und sehnsüchtig, was es alles geben wird am Heiligen Abend. „Setzt euch bloß hin und lasst eure Griffel von den Päckchen“ sagte Nina gutmütig. „Keine Angst“ antwortete Daniel. Er wusste, Oma Inge würde da keinen Spaß verstehen. Die Hündin Bernadette und der rote Kater Kallemann lagen faul und träge vor dem Kamin. Wie das so ist in der Weihnachtswoche, die Menschen verstehen, was die Tiere reden. „Warum warst du nicht mit rodeln?“ fragte der Kater die Hündin. „Schließlich bin ich eine Dame“ antwortete die Hündin. „Dass ich nicht lache, du eine Dame. Dein Geschäft lässt du überall liegen.“ „Ich habe meine Ecken im Garten“ fauchte sie zurück. „Du bist auch kein Gentleman“ sagte die Hündin zum Kater. „Vergrab ich nicht dein Häufchen mit?“ antwortete der Kater. Bernadette, die Hündin winkte ab. „Noch nie was von Hygiene gehört, du dummer Hund“ sagte der Kater. Dabei liebten sie sich innig.
Als die Katzenmama vor einem Jahr verschwand und nicht mehr auftauchte, tröstete ihn Bernadette und holte ihn nachts in ihr Körbchen, hielt ihn stundenlang in ihren Vorderläufen und kuschelte mit ihm. Sie wussten beide, dass sie es gut getroffen haben, mit dieser Familie. Kallemann, der Kater hielt das Haus und den Garten Mäusefrei. Bernadette meldete sofort, wenn jemand kam. Jeden Abend spazierten sie mit Oma Inge durch die Siedlung. Sie liebten alle diese Abendspaziergänge, wenn der Tag sich langsam dem Ende neigte.
Die Kinder saßen alle müde auf der Couch und dösten vor sich hin. Nur die kleine Amelie plapperte munter drauf los. Marcel hob seinen Kopf und sagte: „Sie nervt“. „Sie ist ein kleines Kind“ erwiderte Nina „du warst auch nicht anders“. Unruhig rutschte Daniel auf seinem Platz hin und her. „Was ist denn los“ fragte Nina. „Mir geht diese Maschine, die Papa in Opas Garage gestellt hat, nicht mehr aus dem Kopf. Wenn man da an einem Hebel zieht, hebt diese eine Last hoch von 1 Tonne“. Nina lachte „träum weiter“ sagte sie „das wären ja 20 Zentner“. „Das stimmt“ mischten sich nun die beiden Jungs ein. „Onkel Thomas hat es uns gezeigt. Die Maschine hat alles hochgehoben“. „Schlagt euch das aus dem Kopf“ sagte Nina. Doch sie redeten alle auf Nina ein. „Lass es und doch ein bisschen versuchen, nur ein kleines bisschen. Was soll da schon passieren“ sagte Daniel. „Nur ein paar Zentimeter“ antwortete Nina genervt. Die Jungs holten die Maschine aus der Garage. Die schien noch nicht einmal groß und schwer zu sein. Geschickt schraubten Daniel und Marcel die Maschine an den Holzarmlehnen der Couch an. Daniel zog den Hebel hoch und siehe da, die Couch erhob sich mit Leichtigkeit, bis fast zur Decke. Haben wir es nicht gesagt, grinsten die 3 Jungs. Nina war verblüfft und es machte ihr Spaß, was sie da erlebte. „Lass das bloß nicht die Eltern und die Großeltern erfahren“ meinte Nina. „Großes Ehrenwort. Wir werden schweigen“ erwiderten die 3 Jungs. Marcel wandte sich an seinen Bruder Yannick: “du auch Angsthase“. Dieser nickte nur zur Antwort. Nina öffnete das große Wohnzimmer Fenster. Die Kinder platzierten sich auf der Couch und flogen in den Hof. Bernadette und Kallemann natürlich auch. „Nina, bring Jacken, Mützen und Decken mit und einen langen Strick und binde uns den alle um den Bauch. Befestige ihn an der Armlehne der Couch. Ich helfe dir dabei.“ sagte Bernadette. Nach ein paar Minuten waren alle gut vermummt und verschnürt. Nina ging noch einmal zurück ins Haus und schloss das Fenster. Daniel zog den Hebel hoch. Die Couch erhob sich mit Leichtigkeit und sie flogen höher und höher. Der Schnee fiel in dichten Flocken und es wurde immer dunkler. Der Fahrer der Buslinie 4 hätte fast einen Unfall gebaut. So erschrak er, als die Kinder sich mit der fliegenden Couch immer mehr entfernten. “Ich werde die Feuerwehr und die Polizei rufen“ sagte er erregt. „Ach Gott“ sprach ein älterer Herr „das müssen Sie nicht. Das sind die Enkel von Opa Klaus. Eine Rasselbande hoch 3. Die kommen wieder zurück“. Die Kinder selbst saßen mucks Mäuschen still da. „Wir fliegen wieder zurück“ sagte Nina zu Daniel. „Es reicht, unser Abenteuer“. Daniel drückte den Hebel nach unten, doch der bewegte sich keinen Zentimeter. Er probierte, doch es ging einfach nicht. Langsam kam er in Panik. Was war, wenn sie nicht mehr zurückkonnten. Unter ihnen der freie Himmel und sie sahen nicht mehr die Lichter der Häuser. Nina war entsetzt. Was hatten sie getan. Marcel und Yannick fingen an zu weinen „wir wollen zurück“ schrien sie laut. Bernadette und der Kallemann waren ganz verzweifelt. „Bell doch mal“ sagte der Kater zu Bernadette „so laut du kannst“. „Wer soll uns hier hören“ gab sie zitternd zurück. „Der Himmel ist voller Engel“ antwortete der Kater, „Also probier‘s“. „Bell“ schrieben die Kinder durcheinander. Vor Schreck brachte Bernadette keinen Ton hervor. Erst beim fünften Versuch klappte es. Sie bellte vor Angst und wurde immer lauter. Und tatsächlich. Jemand hörte es. Der Nikolaus. Der flog gerade mit seinen 6 Rentieren und seinem beladenen Schlitten aus dem Himmelstor, um Geschenke für die Kinder auf der Erde zu verteilen. Ich werde verrückt, dachte er. Da bellt doch ein Hund. Ich muss der Sache nachgehen. Mit Schlittengeläut flog er auf die Töne zu. Nach etwa 150 metern sah er die Couch mit den Kindern, dem Hund und dem Kater direkt auf das Himmelstor zu schweben.
„Mich laust der Affe“ rief er verblüfft „wo kommt ihr denn her? Wieso können euch eure Eltern überhaupt so etwas erlauben?“ “Die wissen nichts davon“ sagte Nina kleinlaut. „Der Hebel lässt sich nicht mehr nach unten drücken“ rief Daniel verzweifelt. „Ihr fliegt direkt auf das Himmelstor zu. Euch wird geholfen. Ihr kommt wieder nach Hause“ sagte der Nikolaus. “Doch lasst euch das eine Lehre sein“ Er hielt den Kindern eine Standpauke und schimpfte polternd mit ihnen. Dann holte er sein Handy aus der Tasche und rief an. „Die Engel werden euch gleich vor dem Tor in Empfang nehmen und euch helfen. Habt keine Angst, alles wird gut. Kinder ich muss weiter. Ich muss zur Erde, um Weihnachtsgeschenke zu verteilen“. Neugierig betrachteten die Rentiere die Kinder und schüttelten die Köpfe. Der Nikolaus reichte jedem der Kinder seine große Hand und wünschte ihnen frohe Weihnachten. Die Kinder bedankten sich höflich und versprachen, so etwas nie mehr zu tun und sich zu bessern. Mit Schlittengeläut schwebte der Nikolaus davon. Plötzlich kamen 3 Engel auf die Kinder zugeflogen, zogen mit vereinten Kräften die Couch nach unten und sie stand auf festem Boden. Die Herzen der Kinder klopften vor Erleichterung und Freude ganz laut. Ein großer dicker Engel sagte: „Ich bin Gabriel, der Monteur und werde den Motor reparieren und euch dann wieder zur Erde zurückbringen“. Jetzt erst fiel den Kindern auf, dass Gabriel einen Monteur Anzug trug. „Das Christkind will euch begrüßen und euch unsere Werkstatt zeigen. Ihr bekommt in der Himmelskantine etwas zu Essen und zu trinken. Spätestens gegen 20.30 Uhr seid ihr wieder zu Hause“ Wie von Geisterhand öffnete sich das große goldene Himmelstor. Ein zarter Elfenengel erschien. Wunderschön mit goldenen Flügeln und Haaren. Ein Kleid bestickt mit tausenden goldenen Sternchen. So etwas Schönes hatten sie noch nie gesehen. „Das Christkind“ sagten sie alle wie aus einem Mund. Selbst die kleine Amelie war sprachlos. Das Christkind nahm Amelie auf den Arm und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn. „Kommt mit, Kinder. Ich zeige euch unsere Werkstadt“. Wie in Trance liefen sie dem Christkind hinterher. Eine riesige Glastür öffnete sich und die Kinder sahen hunderte Engel an großen Tischen stehen, die Weihnachtsgeschenke einpackten. „Das muss noch zur Erde gebracht werden. Bis morgen Abend. Für die Kinder auf der ganzen Welt“ sprach das Christkind. „Wir haben noch viel Arbeit im Himmel. Ich werde mich jetzt von euch verabschieden. Ein Engel wird euch in die Kantine führen“. Sie kamen an riesigen Fernrohren vorbei, sahen in jeden Winkel der Erde, sahen ihren Onkel Matthias, der jüngste Sohn der Großeltern in Kalifornien am Frühstückstisch sitzen. Dieser wohnte schon viele Jahre in Amerika. Das Christkind legte jedem seine Hand auf den Kopf und wünschte ihnen frohe Weihnachten. Es sagte zu ihnen: „In eurem Herzen seid ihr gute Kinder, bleibt so. Und euch meine ich auch Kallemann und Bernadette“. Vor Rührung traten dem Kater Tränen in die Augen. „Dass wir das erleben durften“ sagte der Kater „Das glaubt uns keiner“. Ganz plötzlich war das Christkind verschwunden. Ein etwas älterer Engel kam auf die Kinder zu. „Ich bin Schwester Agnes und führe euch nun zur Kantine. Kommt alle mit. Auch du, Bernadette und Kallemann“. Nach einigen Schritten öffnete Agnes eine Tür und sie waren in einem riesigen Lokal mit eingedeckten Tischen. Es roch köstlich. Einige Engel saßen da und speisten. Agnes platzierte die Kinder und die beiden Tiere an einen großen runden Tisch. Amelie kam in einen Kinderstuhl. „Was möchtet ihr denn essen“ fragte Agnes. „Pizza“ ertönte es einstimmig zurück. Amelie: „Spaghetti und braune Sauce“. „Und Cola“ riefen die Kinder. Ausnahmsweise bekommt ihr Cola. Nach 10 minuten stand auf jedem Platz das gewünschte Essen. Bernadette und Kallemann bekamen das entsprechende Futter mit viel Fleisch. Nach fast einer halben Stunde erschien Gabriel der Engel. „So Kinder. Jetzt geht es zurück zur Erde“ sagte er gutgelaunt. Agnes verabschiedete sich von den Kindern und Gabriel nahm sie mit in den Hof. Sie legten Ihre Jacken an. „Ihr müsst euch nicht anbinden. Wir fliegen euch zu dritt zurück. Euch passiert nichts“ sagte Gabriel. Die Engel standen im Hof und winkten den Kindern nach. Die Couch erhob sich mit ihnen und sie schwebten ruhig und sicher auf die Erde nieder. Als sie den Lichtern der Stadt näherkamen, waren sie alle froh und erleichtert. Die Friedenstraße lag da, wie ausgestorben. Gabriel berührte das Wohnzimmer Fenster und wie von Geisterhand öffnete sich dieses. Er setzte Zentimeter genau die Couch auf den Boden. “Ich bau den Motor ab“ sagte Gabriel „und bringe ihn in die Garage zurück. Dann fliegen wir zurück in den Himmel“. Die Engel verabschiedeten sich von den Kindern und wünschten ihnen frohe Weihnachten und schwebten auf in den Himmel. Die Kinder winkten, bis sie ihren Blicken entschwunden waren. Glücklich saßen sie auf der Couch. „Das ging ja noch einmal gut“ meinte Nina. „Ihr geht jetzt eure Zähne putzen und eure Schlafanzüge anziehen. Dann werde ich euch alle ins große Bett legen. Amelie werde ich in ihr Reisebettchen legen, das auch im Schlafzimmer steht“. Nach 10 Minuten lagen die Kinder im Bett und Amelie schlief sofort ein. Nina löschte das Licht und zog leise die Tür zu. Nina legte sich auf die große Couch und schlief ebenfalls sofort ein. Bernadette und Kallemann beschlagnahmten die kleine Couch. „Wirst du ein bisschen mit mir kuscheln? “ fragte der Kallemann Bernadette. „Du bist für mich meine Mama und ich bin froh, dass wir uns haben“. „Aber ja“ antwortete Bernadette und nahm ihn glücklich zwischen ihre Vorderläufe.
Als die Eltern und Großeltern eine Stunde später nach Hause kamen war alles dunkel und ruhig im Haus. „Wir trinken in der Küche noch einen Kaffee und knabbern ein paar Weihnachtsplätzchen“ sprach Oma Inge. Sie waren alle damit einverstanden. Opa Klaus schritt die Treppen hoch und wollte nach den Kindern sehen. Da lagen sie alle 4 schlafend und mit einem Lächeln im Gesicht. Leise schloss Opa Klaus die Tür und lies seine Enkel in Ihren Träumen allein. Nach einer gewissen Zeit löste sich die Familienrunde auf. Gabi und Jürgen weckten ihre Tochter Nina auf, nahmen Stephan und Ute mit hinüber in ihr Haus zum Schlafen. Beate und Thomas blieben bei Oma und Opa. Morgen war Heilig Abend und es gab noch einiges zu tun. Das Haus lag dunkel und ruhig da. Schnee bedeckte alles. Das Grübentälchen, mit all seinen Menschen, mit Ihren Sehnsüchten und Träumen, schlummerte friedlich dahin. Als die Kinder am Morgen erwachten, konnte sich keines mehr an das Abenteuer erinnern. Nur Bernadette und Kallemann wussten, dass es Dinge gab, zwischen Himmel und Erde, die unerklärbar waren.
Meiner Heimatstadt und meinem geliebtem Grübentälchen und Ihnen allen, gesegnete und besinnliche Weihnachten und ein hoffentlich gesundes, neues Jahr.
Herzlichst Ihre Inge Presser